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Frühförderung – eine Illusion

    Ein typischer Topos in der Literatur zur Frühförderung ist etwa der vom Hans, der nimmermehr lernt, was Hänschen nicht gelernt habe. Das Hänschen-Argument dürfte vor allem deshalb so wirksam sein, weil es bei Eltern Ängste mobilisiert und gleichzeitig so plausibel erscheint: Volkes Mund tut bekanntlich Wahrheit kund und mit dem Bezug auf Hirnforschung wird diese noch gewichtiger.
    Mit Verweis auf „sensible Phasen“, „Entwicklungsfenster“ und „synaptische Plastizität“ wird eine intensive frühe Förderung angemahnt, denn die wichtigsten Schritte in der Hirnentwicklung vollzögen sich innerhalb der ersten drei Lebensjahre und was in diesem Zeitraum versäumt werde, könne auch nicht nachgeholt werden. Die empfohlenen Maßnahmen reichen von der Darbietung bestimmter Spielzeuge und Musikstücke bis hin zu Englischkursen für Babys, damit sie die Sprache später akzentfrei beherrschen.
    Als neurowissenschaftliche Referenz dienen den Autoren insbesondere Deprivationsexperimente. In solchen Experimenten werden den Versuchstieren bestimmte Erfahrungen vorenthalten oder aber die Umwelt wird entsprechend reizarm ausgestattet. Verschiedene Studien konnten zeigen, dass eine frühe Deprivation oder eine reizarme Umwelt negative Auswirkungen auf die Hirnentwicklung der Tiere haben. Allerdings ist die Übertragung dieser Ergebnisse auf Menschen heikel: Man kann in solchen Experimenten nur vergleichsweise einfache Entwicklungsprozesse untersuchen und daraus zwar Aussagen über entwicklungshemmende Faktoren gewinnen, keineswegs kann man jedoch im Umkehrschluss daraus ableiten, welche Faktoren sich nun besonders positiv auswirken (vgl. Becker, 2008).

    Allerdings zeigte sich in einer Untersuchung (Luby et al., 2016), dass Mütter, die ihre Kinder im Vorschulalter unterstützen, das Gehirnwachstum vor allem in jenen Bereichen fördern, die für Lernen, Gedächtnis und Stressreaktionen verantwortlich sind, während sich dies bei Kindern, die später erst in der Grundschulzeit mehr Aufmerksamkeit erhielten, weniger stark auf die Gehirnentwicklung auswirkt. Dabei verdoppelte sich das Wachstum des Hippocampus bei Kindern, die durch ihr Mütter überdurchschnittlich stark angeregt wurden, im Vergleich zu Kindern, die nur mäßig unterstützt wurden. Vermutlich gibt es eine sensible Phase gibt, in der das Gehirn mehr auf mütterliche Unterstützung reagiert, d. h., das Gehirn ist in jungen Jahren noch viel formbarer als bei älteren Kindern, sodass es besonders wichtig ist, dass Kinder in dieser Zeit eine besondere Unterstützung und Pflege erhalten. Bei dieser Untersuchung fertigte man regelmäßig Gehirn-Scans von Kindern von der Vorschule bis zu frühen Jugend an. Dabei zeigte sich, dass diejenigen Kinder einen stärkeren Anstieg des Volumens des Hippocampus aufwiesen, deren Mütter sie insbesondere in den Vorschuljahren unterstützt und gefördert hatten. Dieser Bereich des Gehirns ist entscheidend für das Lernen, das Gedächtnis und die Gefühlskontrolle. Im Gegensatz dazu erschien der Hippocampus kleiner bei Jugendlichen, deren Mütter während der Vorschulzeit weniger unterstützend waren, selbst wenn ihnen ihre Mütter in der Grundschule oder Mittelstufe mehr Unterstützung zukommen ließen.

    Frühförderwahn

    Nach Ansicht von ExpertInnen gibt es in den letzten Jahren einen regelrechten Frühförderwahn, wobei das, was als jeweils beste Erziehung erscheint, oft sehr wenig damit zu tun hat, wie Kinder sind. Eltern erliegen dabei dem Irrglauben, völlig aus eigenen Überlegungen über die Erziehung zu entscheiden, wobei die Kindheit in den hochproduktiven Ländern immer stärker nach einem globalisierten Universalmodell abläuft, ausgerichtet auf eine möglichst intensive und frühe kognitive Förderung. Damit wird der letzte noch verbliebene Schonraum Kindheit ausgehöhlt. Das Leben der Kinder wird immer stärker von ökonomischen Imperativen wie Leistung, Anstrengung und Selbstdisziplin bestimmt, wobei das Ziel der Optimierung sogar in der Freizeit dominiert. Dieses gesellschaftlich und familiäre geförderte Bestreben, bloß keine Möglichkeiten und Fähigkeiten brachliegen zu lassen, nimmt manchmal wahnhafte Züge auch im Umgang mit Kindern an. Im Kindergarten und in der Schule verstärkt sich der Druck. Zwar ist Frühförderung nicht grundsätzlich abzulehnen, doch oft bleiben das unbefangene Erleben von Natur und häuslicher Umgebung auf der Strecke, ebenso wie in spielerischem Miteinander erlernte soziale Fähigkeiten. Eltern sollten sich klarmachen, dass Erziehung auch immer etwas damit zu tun hat, was für Leistungen sich andere von den Kindern erhoffen. Eltern sollten nicht zögern, ihre Erziehungsziele immer wieder einmal in aller Ruhe grundsätzlich zu hinterfragen.

    Frühförderindustrie

    Da das Gehirn von Kleinkindern besonders aufnahmefähig ist, versuchen sich Eltern, gefördert durch eine regelrechte Förderindustrie, in extrem frühen Förderungen von Kindern, um sie für einen späteren schulischen wie auch beruflichen Erfolg oft regelrecht zu programmieren. Für viele Eltern bedeutet Frühförderung oft eine Vielzahl von meist kostenpflichtigen Angeboten in musischen, sprachlichen, sportlichen oder naturwissenschaftlichen Bereichen wahrzunehmen, wobei sich alle Anbieter solcher Programme dabei auf die neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaften berufen. Zwar weiß man heute dank zahlreicher neurobiologischer und entwicklungspsychologischer Studien, dass das das Gehirn nach der Geburt sehr stark formbar ist, wobei sich vor allem die Areale für höhere kognitive Fähigkeiten besonders rasant entwickeln bzw. miteinander verschaltet werden. Allerdings gibt es keinerlei wissenschaftliche Belege dafür, dass solche Frühförderprogramme für Vorschulkinder tatsächlich die Gehirnentwicklung positiv beeinflussen. Oft sind diese Frühförderprogramme an Wissens- und Faktenvermittlung ausgerichtet, aber nicht an den in diesem Alter naturgemäß vorhandenen kindlichen Bedürfnissen, die Welt spielerisch zu entdecken. Vor allem bei Kindern muss der Impuls, sich mit Neuem zu befassen, immer vom Kind und dessen Interessen ausgehen, damit Lernen überhaupt stattfindet. Wesentlich wichtiger ist in diesem Alter besonders die emotionale und soziale Umgebung, denn nur wenn ein Kind sich geliebt, geachtet, sicher und akzeptiert fühlt, ist es aufnahmefähig und bereit, sich spontan der Umwelt zuzuwenden. Kinder lernen im von ihnen aus Interesse gestalteten freien Spiel mit anderen Kindern am meisten. Wird aber von den Eltern zuviel Drück in dieser Hinsicht ausgeübt, kann die spätere Lernkarriere massiv geschädigt werden, denn bei Überforderung statt Förderung wird daraus ein Beziehungsproblem zwischen Eltern und Kind, wobei Kinder permanent vermittelt bekommen, dass ihre Eltern sie für verbesserungswürdig halten, was dem Selbstwertgefühl der Kinder und ihren Umgang mit der Welt äußerst abträglich ist.

    Beziehungsqualität im Kindergartenalter fördert das Arbeitsgedächtnis

    Im Rahmen des Projektes „Beziehungs- und Interaktionsqualität im Kontext der sozio-emotionalen und kognitiven Entwicklung im Kindergartenalter“ beteiligen sich 75 Familien und 13 Kindertageseinrichtungen, wobei untersucht wurde, ob die direkte Begleitung und Unterstützung durch Eltern und ErzieherInnen zur Ausbildung der Kompetenzen der Kinder beiträgt, insbesondere zum Arbeitsgedächtnis, Zahlen- und Mengenwissen und zur phonologischen Informationsverarbeitung. Es zeigte sich, dass wenn ErzieherInnen mit hoher Sensibilität auf Kinder reagieren und die Impulse der Kinder aufgreifen, dies zur Förderung der Kompetenzen der Kinder beiträgt, insbesondere zur Fähigkeit der Mädchen und Knaben, sprachliche Inhalte im Bewusstsein zu halten. Es zeigten sich demnach deutliche Fortschritte der Kinder im Arbeitsgedächtnis, im Wissen über Mengen und Zahlen sowie in der phonologischen Informationsverarbeitung. Diese drei Kompetenzbereiche Arbeitsgedächtnis, Zahlen- und Mengenwissen und phonologische Informationsverarbeitung unterstützen dabei das Lernen der Mathematik und der Schriftsprache in der Schule, wobei das Arbeitsgedächtnis dazu beiträgt, dass neue Informationen kurzfristig im Gedächtnis behalten und verarbeitetet werden können. Es wurde aber auch deutlich, dass sich zwar die Kompetenzen aller Kinder entwickeln, aber bereits vor dem Eintritt in die Schule erhebliche Unterschiede zwischen den Kindern vorhanden sind.

    Literatur & Quellen
    Nicole Becker: „Reißt die Zeitfenster zum Lernen auf!“ in der F.A.Z.-Serie Gehirntraining.
    Stephanie Lahrtz: Schluss mit dem Frühförderwahn. NZZOnline vom 6. Dezember 2011.
    Joan L. Luby, Andy Belden, Michael P. Harms, Rebecca Tillma, & Deanna M. Barch (2016). Preschool is a sensitive period for the influence of maternal support on the trajectory of hippocampal development. Proceedings of the National Academy of Sciences, 113, 5742-5747.




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